leicht ist schwer
Es war einmal ein Mädchen, geboren in Zürich und wie alle Schweizer Kinder aufgewachsen mit den Geschichten aus den Bergen: Der „Schellen-Ursli“ ist das wohl bekannteste Bilderbuch aus der Schweiz, berühmt vor allem wegen der Illustrationen des Künstlers Alois Carigiet. Viel Bewegung ist in seinen Bildern, die Zeichnung und Malerei auf ganz besondere Weise verbinden. Stark betonte schwarze Konturen und sorgfältig gestaltete, wie ausgemalte Farbflächen für die wesentlichen Bildelemente kontrastieren mit den nur angedeuteten kleinen Begebenheiten am Rand des Geschehens, die gleichwohl auch erzählt werden wollen.
Am leichtesten wäre es wohl gewesen, wenn Isabelle Roth, die 1969 in Zürich geboren wurde, auf direktem Weg Malerin geworden wäre. Aber sie träumte davon, als Tänzerin nach London zu gehen, besuchte zwei Jahre lang die legendäre Colombo Dance Factory in Zürich und dann noch ein Semester die nicht weniger legendäre Scuola Teatro Dimitri im Tessin, zog anschließend nach München – und gründete eine Familie. 1995 begann sie an der Akademie der Bildenden Künste in München bei Olaf Metzel ein Studium der Bildhauerei, das einzig auf einem Missverständnis zwischen Lehrer und Schülerin begründet war: Isabelle Roth hatte sich mit Fotos von den Puppen beworben, die sie – die ehemalige Waldorfschülerin – für ihre beiden kleinen Töchter gebastelt hatte. Er hatte das für eine besonders abgründige Form von Bildhauerei gehalten.
Es wurde ein schwerer Weg. Diszipliniert und mit einem gänzlich anderen Zeitplan als ihre Studienkollegen, die mittags keine Kinder aus dem Kindergarten abholen mussten, absolvierte Isabelle Roth die Akademie. Weil sie sich auch hier nicht verbiegen lassen wollte, wechselte sie mehrmals die Klasse, bis sie schließlich ihr Diplom bei James Reineking ablegte. Eine längere Phase mit beinahe lebensgroßen Figuren aus Betonguss hatte sie da bereits hinter sich gelassen. Auf der Suche nach mehr Leichtigkeit hatte sie am Ende der Studienzeit angefangen, mit Maschendraht zu arbeiten – und auf große Papierbögen zu zeichnen.
Es war also einmal eine Tänzerin, die zuerst Bildhauerin und schließlich Malerin wurde. Erst nach der Akademie wechselte Isabelle Roth endgültig zur Leinwand. Aber sie breitete von Anfang an eine so große Fläche für die meist weiblichen Protagonistinnen ihrer Bilder aus, dass sie sich darin wie Tänzerinnen auf einer Bühne bewegen können. Immer geht es gleichermaßen um eine Erzählung wie um eine Raumerfahrung, deshalb holt die Malerin zunächst einige Requisiten ins Bild, eine Bank, ein paar Stühle, dazu vielleicht einen Tisch, manchmal auch nur einen großen weichen Teppich oder aber ein Ruderboot. Erst dann treten die Figuren auf und suchen sich ihren Platz. Sie tragen schöne Kleider, die für eine Tanzprobe ebenso passend sind wie für einen Ausflug an den See. Sie sind kräftig und zart zugleich, fröhlich wie aus einem Bilderbuch und dabei elegant wie aus einem Gemälde von Hodler. Vor allem aber füllen sie, meist lebensgroß dargestellt, mit ihren Bewegungen den gesamten Raum aus, selbst wenn sie zum Tanzen nur auf einen Stuhl steigen oder sich sogar sachte an den Bildrand anlehnen.
Die großformatigen Bilder von Isabelle Roth entstehen in einer höchst eigenwilligen Mischtechnik aus Malerei und Zeichnung. Zunächst spannt sie die riesigen Leinwände auf, anschließend trägt sie mit der Walze als Grundierung eine dünne Acrylschicht auf, oftmals in einem matten Schwarzgrau. Die eigentliche Bilderzählung beginnt dann mit der Kohlezeichnung, vielleicht nur mit einfachen Lineaturen. Es folgen verschiedenfarbige Flächen. Dafür kommt nun die Ölfarbe zum Einsatz, die mit Spachteln in unterschiedlichen Größen dünn aufgetragen wird. Das Bild und seine Geschichte entwickeln sich nun Strich für Strich, Fläche für Fläche, Schicht für Schicht. Figuren und Gegenstände tauchen auf und verschwinden wieder. Bis zuletzt bleibt das Geschehen auf der Leinwand in Bewegung und verändert sich. Große Partien werden allein mit den Mitteln der Malerei sorgfältig und tiefgründig gestaltet. Auch nach Jahren kann ein Bild so noch einmal überarbeitet werden. Das Prozesshafte selbst ist das Thema der Bilder von Isabelle Roth, ihr Reiz liegt in der scheinbaren Gleichzeitigkeit verschiedener Stadien ihrer Entstehung.
Und so scheint es, als folgten die Figuren einer Choreographie, als machten sie sich mit ihren Bewegungen und Gesten nicht nur den Bildraum, sondern auch die Welt außerhalb des Bildes zu eigen. Als hielten sie nur kurz inne, um auf einer der Sitzgelegenheiten auszuruhen, aus den bereitgestellten Schüsseln, Schalen und Bechern zu naschen, ein Stillleben zu arrangieren oder den Duft der Blumen in den Vasen zu genießen. Manchmal gesellen sich dann Tiere zu den verträumten Tänzerinnen in den Bildern von Isabelle Roth: Ein Hund blickt bewundernd zu seiner schönen Herrin auf. Eine Eule fliegt mit leisem Rauschen durchs Zimmer. Eine Ziege bleibt vor dem Sofa stehen und überbringt einen kleinen Gruß aus den Schweizer Bergen.
Die Malerin hat die Zeit angehalten, um ihre Protagonistinnen in diesem kurzen Augenblick zu betrachten. Und sie selbst staunt am meisten, wenn sich in solchen Momenten eine fragile Balance zwischen Bewegung und Stille einstellt, wenn Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft ineinander fließen, wenn das Bild schwebt – und wenn aus dem Schweren das Leichte geworden ist.
Katja Sebald